ÄRZTE-HANDSCHRIFT: DAS GROSSE RÄTSEL

Die Doktorschrift hat einen schlechten Ruf. Manch medizinisches Gekritzel lässt dem Leser tatsächlich viel Interpretationsspielraum. Woher rührt dieses Phänomen?
Ärzte sind nicht gerade für ihre Schönschrift bekannt. Wie kommt es, dass ausgerechnet Mediziner wegen einer unleserlichen Handschrift auffallen? Zeugt es von hohem Selbstbewusstsein? Charisma? Oder gar Nachlässigkeit? Die Erklärungsversuche sind vielfältig und reichen nicht selten bis hin zur Attribution vermeintlich typischer Persönlichkeitsmerkmale dieser Berufsgruppe.
Fest steht, für Medizinische Praxis-Assistentinnen sind unleserliche Laufzettel ein Ärgernis, weil sie dazu führen, dass MPA nochmals beim Arzt Rücksprache nehmen müssen. Was Zeit kostet. Und Nerven.
Eine Studie am Berner Inselspital legt nahe, dass die unleserliche Handschrift von Ärzten gar eine gewichtige Fehlerquelle bei der Herausgabe von Medikamenten darstellt. Die Forscher berichteten 2011 im Fachmagazin «BMC Health Services Research», dass nur gerade zwei Prozent der untersuchten Verschreibungen «gut leserlich» gewesen seien, 42 Prozent «mässig», 52 Prozent «schlecht» und vier Prozent gar «unleserlich».
Worin liegen die Ursachen für diesen Befund? Wir haben nach Antworten gesucht. Bei zwei Expertinnen, die es wissen müssen.
Marguerite Spycher sieht den Grund in der langjährigen Ausbildung und Berufstätigkeit der Ärzte. «Je mehr man in seiner Laufbahn von Hand geschrieben hat, desto mehr entfernt man sich von der Schrift, die man in der Schule gelernt hat, und desto mehr Eigenprägung verleiht man ihr», sagt die Schriftpsychologin.
Als weiteren Punkt nennt Spycher den Faktor Zeit. «Tempo und Genauigkeit verhalten sich umgekehrt proportional zueinander», sagt sie. Das bestätigt auch Marie Anne Nauer, Präsidentin der Schweizerischen Graphologischen Gesellschaft. Ärzte stünden immer stark unter Zeitdruck und müssten daher sehr schnell schreiben. Nicht nur in der Praxis, sondern bereits vorher während des Studiums, sagt sie. «Menschen mit einer höheren Bildung schreiben oftmals stark vereinfacht.» Wenn man in einer Vorlesung mitschreibe, müsse man sich angewöhnen, sehr schnell zu schreiben, was mit der Vereinfachung der Schrift und einer verstärkten Unleserlichkeit einhergehe, erklärt Nauer. «Die schwer zu entziffernde Schrift ist eigentlich nichts Schlechtes, sondern vielmehr ein Zeichen von Intelligenz und Effizienz», sagt sie.
Das Phänomen scheint also kein ärztespezifisches zu sein. «Der Eindruck, dass Mediziner eine besonders schlechte Handschrift haben, entsteht wohl dadurch, dass viele Menschen früher oder später ein Rezept eines Arztes in der Hand halten, das etwas unleserlich geschrieben ist», vermutet Nauer. Es gäbe natürlich auch andere Intellektuelle und Gebildete, die über eine solche Schreibweise verfügten, aber diese Handschriften bekomme man eben seltener zu Gesicht.
Oft handle es sich bei den Texten auch um medizinische Fachbegriffe, Latein oder komplizierte Medikamentennamen, die einem Laien ohnehin nichts sagen würden, ergänzt Marguerite Spycher.
Die Annahme, dass von der unleserlichen Handschrift auf typische Persönlichkeitsmerkmale dieser Berufsgruppe geschlossen werden kann, muss ins Reich der Legenden verwiesen werden. Wenn jetzt auch noch alle Praxen vom Papier- auf das elektronische Rezept umsteigen, gehört auch die Problematik der Interpretationsfehler beim Medikamentenbezug der Vergangenheit an.
Wie gehen Sie im Praxisalltag mit der unleserlichen Schrift Ihres Vorgesetzten um? Oder ist Ihr Arzt gar eine Ausnahme und verfügt über eine wunderbare Schönschrift? Wir freuen uns auf Ihre Kommentare.